Fallbeispiel 1: Sichtbar werden
Ausgangssituation
Frau Christiane Radler (Name geändert) ist Chefdesignerin eines internationalen Unternehmens für technische Gebrauchsgüter. Seit über zehn Jahren arbeitet sie im Unternehmen und hat Produktpalette und Erfolg deutlich geprägt. Sie hat aber in letzter Zeit häufiger die Sorge, dass ihr Einflussbereich reduziert wird. In Aufgabenbereiche, die ihr wichtig sind, drängen neue Kollegen. Ihre Arbeit macht ihr insgesamt weniger Freude.
Wie hat sich Frau Radler bisher verhalten?
Frau Radler arbeitet im Unternehmen fast ausschließlich mit Männern zusammen. Deshalb nimmt sie sich in Ihrer Rolle als Frau sehr zurück. Sie kommuniziert sachlich, kann mit den Kollegen aber auch herzhaft lachen. In kritischen Situationen möchte sie durch ihre Kompetenz überzeugen, meldet sich aber selten deutlich zu Wort. Sie unterstellt häufig, dass ihr Chef schon weiß, wie sie über Dinge denkt – und dass er sie anspricht, wenn er ihre Stellungnahme braucht.
Was hat sie bisher erreicht, was nicht?
Sie glaubt zu wissen, dass ihr Chef sehr große Stücke auf sie hält, wehrt sich aber nicht gegen die zunehmende Eingrenzung durch neue Kollegen. Versuche, die Situation mit ihrem Chef zu besprechen, führten nicht zu der nötigen Klarheit. Bei direkten Aussprachen mit den neuen Kollegen fühlt sie sich abgeblockt. Sie weiß nicht mehr weiter.
Erwartungen an das Coaching
Frau Radler hat den Wunsch, von ihren Kollegen, insbesondere aber von ihrem Chef, als Person stärker wahrgenommen und fachlich ernster genommen zu werden. Sie ist fachlich sehr kompetent, findet aber, dass ihr dies vom Umfeld nicht spürbar genug gespiegelt wird. Hier erwartet sie vom Coaching Hilfestellung.
Auftragsklärung: Wünschen allein hilft nicht
Frau Radler möchte, dass sich im Umfeld, also bei den anderen, etwas ändert. Bei der gemeinsamen Auftragsklärung erkennt sie aber, dass sich zunächst bei ihr selbst etwas ändern muss. Sie versteht, dass sie vom – passiven – Wünschen („die müssen doch sehen, dass ich gut bin“) zu einem – aktiven – neuen Auftreten kommen muss („denen zeige ich jetzt, wie gut ich bin!“). Nach diesem Wende-Erlebnis erarbeiten Frau Radler und ich gemeinsam die Formulierung einer Zielsetzung, die ihre eigene Verantwortlichkeit in den Vordergrund stellt.
Modifizierte Zielformulierung
Ich möchte mich im Unternehmen und gegenüber meinem Chef deutlicher und klarer mit meinem Engagement und meinen Ansichten zeigen.
Diese neue Zielformulierung und die voraus gegangene Auftragsklärung sind Basis des Coaching-Auftrages zwischen Frau Radler und mir. Je signifikanter das wirkliche Anliegen oder Bedürfnis des Klienten herausgearbeitet werden kann und je konsequenter es bei der Coaching-Arbeit im Auge behalten wird, desto effizienter wird das Coaching verlaufen – das trifft bei jedem meiner Auftraggeber zu.
Zielführende Maßnahmen
Frau Radler und ich vereinbaren zunächst sechs zweistündige Sitzungen.
- Innerhalb der ersten Sitzungen konkretisieren wir die Themen, Arbeitssituationen und eigenen Verhaltensweisen, bei denen sich Frau Radler eine Veränderung wünscht.
- Im zweiten Schritt wird in einer Ist-Analyse ihr Verhalten in kritischen und anderen Schlüsselsituationen festgestellt – einschließlich des Echos in ihrem Arbeitsumfeld.
- Dritter Schritt: Es wird gemeinsam ein neues, zielführendes Verhalten erarbeitet, das dem Charakter und dem Temperament von Frau Radler entspricht. Ein biografischer Ausflug leistet dabei wertvolle Hilfe.
- Vierter Schritt: Frau Radler legt drei Arbeitsfelder fest, in denen sie die gemeinsam erarbeiteten Vorgaben in der Praxis umsetzen und dadurch die gewünschten Veränderungen erreichen will.
Bei der Erarbeitung der zielführenden Maßnahmen zeigt sich, dass im Coaching mit Frau Radler etwas möglich ist, wofür nicht alle Klienten offen sind: Ein biografischer Blick in die frühe Kindheit und ein psychologischer Blick auf einen der “Antreiber“, die in dieser frühen Phase entstehen und uns ein Leben lang beeinflussen können.
Frau Radler sucht Anerkennung über ihre Leistung. Ihr Selbstwertgefühl ist von dieser Anerkennung abhängig. Dass sie oft nicht so „groß rauskommt“ wie sie es sich wünscht, liegt daran, dass ein dominantes Verhaltensmuster sie „klein macht“: ihr Bestreben, es immer allen recht machen zu wollen.
Für das kleine Mädchen war dieser „mach’s recht“ Antreiber ein wichtiges Instrument, um sich zu schützen und sich die Anerkennung zu verdienen, die es für seine Entwicklung brauchte. Weil aber dieses kleine Mädchen als „inneres Kind“ noch heute in Frau Radler steckt, ist auch der „machs recht“ Antreiber noch immer wirksam – zum Beispiel in Situationen, in denen Stress eine überlegte Reaktion erfordern würde. Frau Radler neigt generell dazu, Kollegen, die nicht die gewünschte Leistung erbringen, zu schützen, anstatt sie (wertschätzend) in die Pflicht zu nehmen. Anderen Kollegen überlässt sie großen Raum bei internen und externen Präsentationen, weil sie sich selbst „nicht in den Vordergrund drängen“ will. Dadurch gerät sie häufig in die Rolle derjenigen, die in der zweiten Reihe steht und alles regelt – was wiederum vom Chef nicht gesehen wird und deshalb auch nicht honoriert werden kann.
Ergebnis
Nachdem Frau Radler die Zusammenhänge erkannt und verstanden hat, kann sie – immer noch in Zusammenarbeit mit mir als Coach – die neu entwickelten Verhaltensweisen schrittweise einüben und schließlich in ihr Repertoire übernehmen. Sie arbeitet daran, ihre Erwartungen direkt und wertschätzend gegenüber ihrem Chef und ihren Kollegen zu kommunizieren. Sie erhebt Anspruch auf Aufgaben und erweitert so ihren Handlungs- und Einfluss-Bereich. Bei Präsentationen übernimmt sie häufiger die Rolle der Vortragenden, um ihre Ansicht und ihre Leistungen darzustellen. Wann immer sie sich neuen Herausforderungen gegenüber unsicher fühlt, entwickeln wir gemeinsam ein entsprechendes neues Handlungsmuster und üben es ein. Sie nutzt mich, um Veränderungen in ihrem Verhalten und Auftreten zu spiegeln, zu korrigieren und/oder zu verstärken. Auch auf Widerstände aus dem Kollegenkreis – die immer auftreten können, wenn eine Person sich verändert – bereitet sie sich vor.
Bei unserem letzten Kontakt schildert mir Frau Radler mit sichtlicher Zufriedenheit, sie fühle sich jetzt „irgendwie angekommen“. Sie sehe noch viele Herausforderungen auf sich zukommen, fühle sich aber ganz gut gewappnet. Sie hat sich in den drei ausgewählten Aufgabenbereichen gut positioniert und erhält deutlich positives Feedback von ihrem Chef und einigen Kollegen. Über ein jährliches Feedback-Gespräch prüfen wir gemeinsam den Stand ihrer Bemühungen.