Fallbeispiel 5: Raum für unterschiedliche Bedürfnisse in Paarbeziehungen

Ausgangssituation
Karin Werner (55 Jahre) hat sich nach einer langjährigen Ehe in den Kollegen Martin (58 Jahre) verliebt. Sie hat ihren Mann, mit dem sie zwei erwachsene Kinder hat, verlassen. Anstatt sich eine eigene Wohnung zu suchen, zieht sie in einer Phase schwieriger emotionaler Auseinandersetzungen mit ihrem Ehemann und den Kindern zu ihrem Kollegen und neuem Partner. Dieser hatte relativ früh deutlich gemacht, dass er es gutheißen würde, wenn sie auf eigenen Füssen stehen würde, und sich auch eine eigene Wohnung nähme. Trotz dieser deutlichen Ansage seitens ihres Freundes, wohnt Frau Werner weiterhin bei ihm. Es gab immer mal wieder einzelne Gespräche über das Wohnthema, die aber nie zu einer – für beide Seiten befriedigende – Entscheidungssituation führten.

 

Wie haben sich beide bisher verhalten?
Beide Partner kommen aus langjährigen Beziehungen. Martin lebt schon geraume Zeit allein und genießt seine Unabhängigkeit, wünscht sich aber auch eine feste Beziehung. Er möchte auf seine neue Partnerin keinen Druck ausüben, fühlt sich aber zunehmend unzufriedener mit der gemeinsamen Wohnsituation – auch weil beide den Alltag sehr unterschiedlich gestalten. Frau Werner ist Frühaufsteher und geht früh zu Bett. Ihr Partner schläft gerne länger und ist ein ausgesprochener Abendmensch. Auch in puncto Ordnung haben beide unterschiedliche Ansichten.

Es scheint so, als ob Frau Werner, die selbst keine Erfahrung im Allein-Leben hat und das gemeinsame Wohnen offensichtlich genießt, das Bedürfnis ihres Partners nicht ernst nimmt oder es verdrängt und das Thema am liebsten ganz vermeidet. Gleichzeitig fühlt auch sie sich offensichtlich sehr verunsichert.

 

Was haben sie bisher erreicht? Was nicht?
Die gemeinsamen Gespräche fruchten nicht. Auf der einen Seite möchte der Partner kein Ultimatum stellen und seine Partnerin weiter verunsichern. Frau Werner versucht das Thema generell zu vermeiden. Die Situation wirkt zunehmend belastend. Die beiden Partner stecken in einer Patt-Situation.

 

Erwartung an das Coaching
Mein Eindruck ist, dass eigentlich jeder im Coaching erreichen möchte, dass der jeweils andere seine Sichtweise annimmt.

 

Auftragsklärung
Mein erstes Treffen mit den Partnern bestätigt meine Annahme, dass es zwischen ihnen einiges Unausgesprochenes gibt. Es kursieren vermutlich Annahmen und Fantasien darüber, was der jeweils andere denkt und fühlt. Diese Situation entsteht weniger aus tatsächlich verheimlichten Themen, sondern spürbar aus der Sorge, den jeweiligen Partner nicht zu verletzen und die Beziehung grundlegend zu gefährden. Diese Form der gegenseitigen Rücksichtnahme führt allerdings in eine klassische Stagnation. Die Formulierung meiner Hypothese wird von den Klienten bestätigt und wohlwollend wird auch der Grund hierfür aufgenommen, beide wirken nahezu erleichtert.

 

Modifizierte Zielsetzung
Ich schlage vor, dass wir gemeinsam den jeweiligen z.T. unausgesprochenen Bedürfnissen und den damit ausgelösten Ängsten auf den Grund gehen und ich diesen Prozess vorerst lediglich moderiere.

 

Zielführende Maßnahmen
Wir verabreden zunächst 2 doppelstündige Treffen für den Moderationsprozess, um anschließend zu prüfen, ob einer der Partner weitere Unterstützung benötigt.

Der Partner von Frau Werner beschreibt achtsam und auf eine wertschätzende Art, wie wichtig ihm diese Beziehung ist, aber auch, wie das Zusammenleben im Alltag ihn zweitweise frustriert. Er wünscht sich nicht einen gegenseitigen Anpassungsprozess, in dem gemeinsame Kompromisse gesucht werden. Vielmehr möchte er seinen Alltag, wie bisher, nach seinen eigenen Bedürfnissen gestalten und seine Partnerin an den Wochenenden oder zwischendurch treffen. Er genießt seinen privaten Freiraum und möchte die aktuelle Beziehung als zusätzliche Bereicherung erleben. Gleichzeitig beschreibt er glaubwürdig, welch große Bedeutung diese Beziehung für ihn hat.

Frau Werner braucht etwas Zeit, um sich zu öffnen. Ihre zugrunde liegenden Themen stellen sich komplexer dar. Sie sagt aus, dass sie sich nicht sicher ist, ob sie sich ein Alltagsleben allein vorstellen kann. Gleichzeitig sorgt sie sich darum, wie wichtig sie für ihren Partner ist. Sie scheint zu glauben, dass ihr diese Beziehung mehr bedeute, als ihrem Partner.

Letzteres scheint die grundsätzliche Sorge zu sein, die das Thema „wie wollen wir unser Zusammenleben gestalten“ so schwierig macht. Ihre eigene Trennung hat sie mit der Unsicherheit, die Beziehungen generell betreffen, in Kontakt gebracht. Sie tut sich schwer damit, auf das Gefühl ihres Partners zu vertrauen und braucht die andauernde Nähe zu ihm, um sich sicher zu fühlen.

 

Ergebnis
Nachdem die Gespräche zu genug Klarheit geführt haben, wo der jeweilige Partner steht, verabredet Frau Werner mit mir Einzelgespräche, um ihre eigenen Themen näher zu beleuchten. Einerseits versteht sie die Bedürfnisse ihres Partners und erinnert sich gut an die ursprüngliche Vereinbarung, das ein getrenntes Wohnen beinhaltete. Sie erkennt zunehmend auch, dass sie die Beziehung mit ihrer eigenen Unsicherheit u.U. gefährdet. Andererseits findet sie noch keine Alternative zu ihrem Konzept zu „Sicherheit durch andauernde Nähe“. An diesem Thema arbeiten wir nach wie vor. Allerdings ist Frau Werner inzwischen auf der Suche nach einer eigenen Wohnung, um wie sie selbst formuliert „das Experiment eins selbstbestimmten Alltagslebens mit einem Partner, der nicht permanent präsent ist, auszuprobieren“. Wir werden uns gemeinsam anschauen, was sie in einer solchen Situation braucht, um genügend Nähe mit ihrem Partner erleben zu können. Dazu mag gehören, dass auch ihr Partner Kompromisse macht, um ihrem Bedürfnis nach Nähe Rechnung zu tragen.

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