Fallbeispiel 2: Entdeckung der Nähe

Ausgangssituation
Herr Jürgen Heimler (Name geändert) ist 32 Jahre, promovierter Physiker und seit ca. 2 Jahren in einer kleineren Unternehmensberatung als Berater tätig. Er wurde vor kurzem zum Projektleiter ernannt und gilt im Unternehmen als zielstrebig und erfolgreich. In der neuen Funktion wird deutlich, dass Herr Heimler im Kundenkontakt und im Projektteam „mit Vorbehalt“ wahrgenommen wird. Er selbst ist ebenfalls unzufrieden mit seiner Wirkung beim Kunden und im Team.

Herr Heimler möchte so wahrgenommen werden wie seine älteren, erfolgreichen Kollegen.

Er nimmt an, dass er aufgrund seines jüngeren Alters weniger ernst genommen wird. Wörtlich lautet sein Auftrag: Ich möchte mit Ihnen an meiner Seniorität arbeiten.

 

Wie hat Herr Heimler sich bisher verhalten?
Immer dann, wenn für Herrn Heimler Widerstände spürbar wurden, hat er „mehr vom Selben“ getan: Er hat sich noch akribischer vorbereitet, seine Sitzungen noch ausgefeilter geplant und seine Vorgaben an Kunden- und Projektteams noch detaillierter ausgearbeitet.

 

Was hat er bisher erreicht, was nicht?
Seiner eigenen Einschätzung nach ist er seinem Ziel, eine „ernsthaftere“ Rolle einzunehmen, kein Stück näher gekommen. Er spürt im Gegenteil zunehmend Widerstände wachsen.

 

Erwartungen an das Coaching.
Herr Heimler möchte verstehen, was bisher schief gelaufen ist. Er hat keine Erklärungen für den aktuellen Schiefstand (wie er es nennt). Auf seiner Suche nach Lösungen befindet er sich lt. eigenem Gefühl in einer Sackgasse.

 

Auftragsklärung:  „Mehr vom Selben ist oft kontraproduktiv“
Im ersten gemeinsamen Arbeitsgespräch schildert mir Herr Heimler, warum er das Gefühl hat, er wirke zu wenig souverän. In der Zusammenarbeit mit Kunde und Team erlebt er häufiger, dass Analysen nicht oder nicht zeitgerecht erstellt werden, die er in Auftrag gegeben hat. Die Atmosphäre sei wenig hilfsbereit und engagiert, sondern eher distanziert und blockierend. Herr Heimler erlebt diese Blockade nicht bei seinen Vorgesetzten, was er deren Seniorität zuschreibt. Er möchte seinen Kunden und sein Team besser in den „Griff bekommen“.

Um den Auftrag von Herrn Heimler besser zu verstehen und um mir ein Bild von Herrn Heimler im Kontakt mit seinem Kunden und Team machen zu können, bitte ich ihn, mir eine typische Kontaktsituation detailliert zu beschreiben.

Das Resultat überrascht mich nicht. Es stimmt mit meiner eigenen bisherigen Einschätzung überein. Herr Heimler wirkt sehr distanziert und professionell (aber im Sinne von effizienzgetrieben). Er ist fokussiert auf Inhalte und nicht auf Prozesse und wirkt damit außerordentlich sachlich, aber wenig menschlich nahbar. Dieses Bild komplettiert sich, als er beschreibt, dass er Informationen beim Klienten und Team häufig per Mail oder telefonisch abfragt und selten im persönlichen Gespräch.

 

Modifizierte Zielsetzung
Nachdem ich Herrn Heimler meine Einschätzung zu seiner Person und Situation spiegele, wirkt er sehr nachdenklich. Er erkennt, dass Seniorität ihm hier nicht weiterhilft. Wir einigen uns darauf, den Auftrag umzuformulieren in die Frage: Wie kann ich meinem Kunden und Team so gegenübertreten, dass Raum und Energie für eine effiziente Zusammenarbeit entsteht? Und: Was ist mein Anteil daran, dass dies nicht geschieht?

 

Zielführende Maßnahmen
Herr Heimler akzeptiert meinen Vorschlag, uns 5mal 1,5 Stunden in einem vierzehntätigen Turnus zu treffen.

Im Laufe unserer Zusammenarbeit erkennt Herr Heimler, wie wichtig die Qualität des Kontaktes für die Zusammenarbeit mit Menschen ist. Durch unterschiedliche Methoden (Wahrnehmungsübungen, Rollenspiel, Spiegelung des eigenen Verhaltens) wird deutlich, dass er gegenüber den Klienten und dem Team wenig Wertschätzung zum Ausdruck bringt. Daher lege ich in der Zusammenarbeit mit Herr Heimler großen Wert darauf, dass für ihn auch in unserer gemeinsamen Arbeit sichtbar wird, wie ein Kunden-Berater-Verhältnis gestaltet werden kann: kontaktvoll, wertschätzend und dennoch in gewisser Weise distanziert.

Hinter der Sachlichkeit und Distanziertheit von Herrn Heimler verbirgt sich eine durchaus sensible Person. Diese Eigenschaft passt allerdings nicht zu dem Bild, das Herr Heimler von einem klassischen  Berater hat. Herr Heimler versteht zunehmend, wie sehr ihn seine Rollendefinition einengt. Wir überlegen gemeinsam, wie wir sein Beraterbild so gestalten und erweitern können, dass es einerseits zu seiner distanzierten, sachorientierten Art passt, ihm andererseits aber die Chance gibt, wertschätzende Kontakte authentisch aufzubauen und zu pflegen.

Zu diesem Zweck resümieren wir typische Kunden- und Teamkontakte, an die Herr Heimler sich erinnert, und „spielen“ diese Situationen unter dem Aspekt  der gegenseitigen Wertschätzung nocheinmal durch. Herr Heimler fühlt sich in seiner neuen Rolle zunächst unwohl, was sich allerdings nach einiger Übung deutlich ändert. Herr Heimler entdeckt die Nähe. Anstatt immer „mehr vom Selben“ tun zu müssen und dadurch immer mehr Distanz zu schaffen, wird er zunehmend aufmerksamer für die sogenannten „Wohlfühlaspekte“ eines Kontaktes: er hält den Blickkontakt, drückt seine Anliegen wertschätzender aus und wirkt interessiert an seinem Gegenüber. Entsprechendes Feedback von Kollegen im Unternehmen unterstützt diesen „Gestaltungsprozess“.

 

Ergebnis
Eine Balance von Nähe und Distanz zu finden, ist nicht nur für Herrn Heimler eine Herausforderung. Da es bei dieser Thematik um ein sehr wichtiges menschliches Grundbedürfnis geht, sind die Menschen die daran arbeiten, immer sehr berührt. Auch die Sitzungen mit Herrn Heimler waren phasenweise sehr intensiv, durchgehend aber auch spielerisch und humorvoll. Herr Heimler ist er selbst geblieben, hat sein Rollenverhalten als Berater allerdings deutlich erweitert. Das diese Verhaltensänderung ihm als Person gut entspricht, erkennt man daran, dass er sich auf Kontakte einlässt, zu einigen Kunden und Kollegen fast freundschaftliche Verbindungen pflegt und sich insgesamt in seinem Berufsleben wohler fühlt.

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