Fallbeispiel 6: Trennung – das Alte loslassen und nach vorne schauen
Ausgangssituation
Frau Brahms kam in einem völlig desolaten Zustand in meine Räume. Sie war nervös, fahrig und man konnte Ihr ansehen, dass sie ansonsten mehr Wert auf ihre äußere Erscheinung legte.
Sie schilderte die Situation folgendermaßen: Sie habe zwei Kinder, 15 und 17 Jahre alt. Sei seit 18 Jahren verheiratet und nur zeitweise berufstätig gewesen. Ihr Mann habe sich – nach eigenen Aussagen – vor einem halben Jahr verliebt und wolle sich trennen. Er wollte mit Frau Brahms über diesen Trennungsprozess in Ruhe sprechen. Sie fühlte sich dazu gar nicht in der Lage. Sie schlief seit Wochen nicht mehr richtig, hatte keinen Appetit und sagte von sich selbst, dass sie keinen klaren Gedanken fassen könne. Sie selbst wollte diese Trennung eigentlich nicht, fand die Ehe aber auch nicht mehr so befriedigend, dass sie unbedingt an ihr festhalten wollte. Dennoch hatte sie das Gefühl, ihr sei der Boden unter den Füßen weggerutscht.
Wie hat sie sich bisher verhalten?
Frau Brahms ist Steuerberaterin. Tagsüber hat sie versucht, das bisherige Leben, soweit möglich, aufrecht zu halten. Nur engste Freunde wissen von der Trennung. Der Mann ist nur noch sporadisch anwesend, so dass auch der Kontakt mit den Kindern komplett ihr überlassen bleibt. Sie möchte die Kinder nicht mit ihren emotionalen Schwankungen belasten und verhält sich hier ruhig und weitgehend gefasst. Die wenigen Gespräche mit ihrem Mann bringen Sie allerdings jedes Mal aus der Fassung. Nach eigener Aussage vermeidet der Ehemann Gespräche über die weitere Zukunft und möchte „erst einmal alles so laufen lassen“.
Was hat sie bisher erreicht? Was nicht?
Da sie die Entscheidung ihres Mannes und den Wunsch nach Trennung als durchweg ernsthaft einstuft, möchte sie trotz ihrer konfusen inneren Situation gern eine Klärung, insbesondere was die existentiellen Fragen betrifft. Sie hat geschafft, sich dem Gedanken einer Trennung zu nähern und versucht entsprechende Gespräche mit ihrem Mann zu führen, schafft es aber emotional nicht, ihm in einer angemessenen ruhigen/sachlichen Art zu begegnen.
Erwartung an das Coaching
Frau Brahms möchte „zur Ruhe“ kommen, wie sie es nennt, d.h. sie möchte wieder schlafen können, wieder eine gesunde Ernährung praktizieren und sich angemessen um die Kinder kümmern können. Und sie möchte die finanziellen Themen einer Trennung analysieren. Sie wünscht sich von ihrem Ehemann, dass er mit ihr die wichtigen Themen bespricht und sie Optionen erarbeiten, wie sie gemeinsam diese Dinge regeln können.
Auftragsklärung
Frau Brahms sucht im Coaching einen Sparringpartner für ihre Themen. Sie erhofft sich mehr Klarheit, wenn sie ihre Sorgen und Fragen mit einem Gegenüber teilen und diskutieren kann. Sie ist überrascht, wie sehr sie emotional aus dem Gleichgewicht geraten ist. Ausdrücklich bittet sie auch um persönliche Hilfestellung zur Definition hinsichtlich ihrer nächsten Schritte.
Modifizierte Zielsetzung
Gemeinsam bestimmen wir die Ziele im Rahmen des Coachings in zwei Kategorien:
Ich möchte verstehen, warum ich so unglaublich tief emotional betroffen bin, dass mein Leben aus den Fugen gerät.
Und ich möchte handlungsfähig sein, um die nächsten Schritte zu definieren und umzusetzen.
Zielführende Maßnahmen
Aufgrund der emotional und gesundheitlich angegriffenen Situation von Frau Brahms einigen wir uns zunächst auf eine nicht festgelegte Anzahl von 2 stündigen Gesprächen, in denen genug Zeit und Raum ist, ihren Gefühlen auf die Spur zu kommen. Dies scheint uns beiden eine wichtige Voraussetzung, um dann anschließend die vor ihr liegenden Sachthemen anzugehen. Parallel empfehle ich ihr Kontakt zu ihrer Hausärztin aufzunehmen, um zu prüfen, wie sie ihre gesundheitliche Situation stabilisieren kann.
Ergebnis
Bereits vor unserem nächsten Gespräch fand eine ärztliche Begutachtung statt. Die Hausärztin hatte Frau Brahms ein leichtes Beruhigungsmittel verschrieben, das ihr augenscheinlich hilft, sowohl besser zu schlafen als auch im Alltag etwas mehr zur Ruhe zu kommen.
Ihre emotional sehr diffuse Situation lässt sich nach 2 Sitzungen gut erklären. Frau Brahms hat ihren Vater sehr früh verloren und hat als Kind versucht, ihrer Mutter alles recht zu machen, um sie nicht zu belasten. Diese Rolle hat sie auch in ihrer Ehe weitgehend beibehalten, und die Karriere ihres Mannes ohne Einschränkungen und Rücksicht auf eigene Bedürfnisse unterstützt. Gleichzeitig hat der Schmerz des früh verlorenen Vaters die Sehnsucht nach einer andauernden „heilen“ Beziehung genährt, was ihr bislang nicht bewusst war. So hat sie kritische Phasen in der Ehe entweder nicht bemerkt oder ihnen keine Bedeutung zugeschrieben. Ihr Glaubenssatz bestand vor allem darin, alles Mögliche zu tun, damit alle es guthaben. Der große Schmerz der Trennung bestand demnach einerseits aus einem alten Schmerz über das Verlassenwerden vom Vater, den die Trennung vom Ehemann wieder neu hat aufleben lassen. Andererseits fühlte sie sich betrogen und verraten, weil sie aus ihrer Sicht ihre ganze Energie in diese Ehe investiert hat – und ihre Sehnsucht nach einer andauernden heilen Beziehung sich nun doch nicht erfüllt. Diese Einsichten unterstützen Frau Brahms nach und nach darin, ihre Gefühle zu verstehen und zuordnen zu können. Sie kann nun auch ihrem Ehemann gelassener und ruhiger gegenübertreten. Sie sieht ihn nicht mehr als den einzigen Verursacher ihrer schwierigen Situation und wünscht sich eine für beide Seiten gute Regelung. Damit hat sich ihre innere Positionierung deutlich geändert, was ein ganz wichtiger Schritt für die weitere Entwicklung und Lösung ist.
Aber auch ohne diese individuellen biografischen Hintergründe ist das Verlassen werden ein äußerst schmerzhafter Prozess. Das einseitige „entlassen werden“ aus einer der exklusivsten Verbindungen, die ein Mensch hat, trifft das Selbstverständnis (Ego), das elementare Bedürfnis nach Sicherheit, sozialer Einbindung, Austausch und Nähe. Stattdessen empfinden viele Betroffene Gefühle der Selbstzweifel bis hin zur Wertlosigkeit und Macht- bzw. Hilflosigkeit. Nicht wenige Verlassene bezeichnen dieses Erlebnis als traumatisch.
Zu diesem Fall: Nach ca. 6 Wochen gibt es nach wie vor keine Gespräche zwischen den Eheleuten über das weitere Vorgehen. Frau Brahms fühlt sich stabil genug, um den nächsten Schritt zu tun. Sie wird mit einer Scheidungsanwältin ihre Situation klären. In der darauffolgenden Sitzung bespricht sie mit mir bereits die erste Rohfassung eines Scheidungsfolgenvertrages. Wir überlegen gemeinsam, ob sie selbst oder die Anwältin sich über diesen Vertrag mit ihrem Ehemann auseinandersetzt. Frau Brahms entscheidet sich für ein Gespräch zu dritt. Sie selbst, der Ehemann und die Anwältin setzen sich in den nächsten Wochen gemeinsam mit dem Vertrag auseinander, der 2 Monate später unterschrieben wird. Jetzt, wo auch die existenziellen Fragen so geklärt sind, dass sie ihr die nötige Sicherheit geben, ist das Befinden von Frau Brahms deutlich anders als zu Beginn unserer Zusammenarbeit. Sie fühlt sich deutlich stabiler, ihre Gesundheit ist viel besser, der Umgang mit den Kindern stabiler und sie hat nicht nur die Kraft, sondern auch den Wunsch, nach vorne zu schauen. Frau Brahms will sich nun Gedanken über die Gestaltung ihres völlig neuen Lebens machen. Ich bin gespannt auf die nächsten Sitzungen.